Z! im Interview mit Volker Braun, Blue Tomato Technologies


Herr Braun, wir haben unter anderem ein Interview mit Aise Zeybek im Heft, die frisch von einer Innovationsreise aus dem Silicon Valley zurück ist. Sie waren bereits 2023 dort. Was hat Sie damals am meisten überrascht?
Ich erinnere mich gut – ich saß an der Stanford University in einem Vortrag, und in dieser „Bubble“ war KI schon fast ein abgehaktes Thema. Dort sprach man längst über das, was nach KI kommt: Longevity, Gesundheit, das Verhindern des Alterns. Das war für mich ein Weckruf. Ich dachte: Während wir hier noch über Potenziale sprechen, leben sie dort schon die nächste Stufe. Mir wurde klar: KI ist keine ferne Vision – sie ist Arbeitsalltag. Und wir sollten hierzulande dringend vom Staunen ins Machen kommen.

Ihr Unternehmen Blue Tomato Technologies ist insbesondere als Digital- und Agile-Agentur bekannt. Warum ist KI heute so präsent bei Ihnen?
Weil KI der logische nächste Schritt unserer Arbeit ist. Seit Jahren digitalisieren und automatisieren wir Prozesse – jetzt bringt KI das Ganze auf ein neues Level: schneller, präziser, günstiger. Plötzlich können auch kleine und mittlere Unternehmen Dinge tun, die früher nur Konzernen möglich waren. Und wir bringen dabei etwas mit, was viele vergessen: die Fähigkeit, Menschen in Veränderung mitzunehmen. Diese Kompetenz aus der agilen Transformation ist entscheidend. Denn ohne Akzeptanz in der Belegschaft scheitert jede noch so gute KI-Initiative.

Ihre KI-Geschichte begann aber viel früher.
Ja, tatsächlich. Schon im Studium habe ich mit neuronalen Netzen gearbeitet – damals noch sehr theoretisch. Mein erstes richtiges KI-Projekt kam 2004 bei einem Telekommunikationsanbieter: „Churn Prevention“, also das Vorhersagen von Kundenabwanderung. Wir haben aus Hunderten Attributen – Wohnort, Nutzung, Störungen, Zahlungsweise – mit neuronalen Netzen Kündigungswahrscheinlichkeiten berechnet. Und das mit rund 80 % Trefferquote!
Ein zweites großes Projekt folgte 2016 bei der Deutschen Bahn: „Predictive Maintenance“ für Elektromotoren in Triebfahrzeugen. Sensorik, Daten, Mustererkennung – um Ausfälle früh zu erkennen. Damals war das aufwendig und teuer. Heute kann man solche Projekte mit einem Bruchteil des Budgets realisieren. Die Einstiegshürden sind dramatisch gesunken.

Wie hat ChatGPT die Spielregeln für Sie verändert?
2022 war für mich ein Wendepunkt. Ich wusste: Das verändert den Markt. Wir haben KI früh ins Portfolio aufgenommen – ohne genau zu wissen, wohin es führt, aber mit dem Gefühl: Das ist der nächste große Sprung.

Unsere bisherigen Digitalprojekte wurden durch KI plötzlich zehnmal schneller, günstiger und skalierbarer. Gleichzeitig wuchs die Verantwortung. Themen wie Governance, Compliance und Leitplanken rückten in den Mittelpunkt. Heute beraten wir unsere Kunden nicht nur technisch, sondern auch organisatorisch und ethisch.

Stichwort Leitplanken: Wie reif ist der Umgang mit KI in Unternehmen?
Die Nutzung wächst – aber häufig ohne klare Regeln. In unseren Vorträgen heben rund 90 % der Teilnehmenden die Hand, wenn wir fragen: „Wer nutzt KI im Arbeitsalltag?“ Meist geht es um ChatGPT. Aber auf die Frage nach verbindlichen Compliance-Regeln bleiben nur wenige Hände oben. Studien bestätigen das: Nur rund 13 % der Unternehmen haben klare Vorgaben. Das ist riskant.

DSGVO-konforme Nutzung ist möglich – etwa über API-Zugänge mit europäischen Datacentern. Aber das muss eingerichtet, überwacht und verstanden werden. Sonst landen sensible Daten schnell, wo sie nicht hingehören.

Wie setzen Sie selbst KI intern ein?
Überall dort, wo sie unterstützt – nicht ersetzt. In Meetings läuft bei uns immer ein KI-Agent mit: Er schreibt Protokolle, erfasst To-Dos, fasst Entscheidungen zusammen. Im Vertrieb hilft „Paul“, unser Bot für Ausschreibungen: Er scannt Portale, matcht Anforderungen mit Profilen, schreibt Angebote – und das in Minuten statt Stunden.

Möglich macht das unser AI Hub, den wir gemeinsam mit unserem Partner Clye aus Laufach entwickelt haben. Also ein regionales KI Produkt vom Untermain. Ganz ohne große Investoren. Der AI-Hub verbindet Systeme wie SharePoint, ERP, CRM und mehr per No-Code, um daraus KI-Anwendungen bereitzustellen. Für unseren Coworking-Space hub42 übernimmt ein Chatbot die gesamte Informations- und Buchungsstrecke – inklusive Formularvorbefüllung. Und intern unterstützen Wissensbots Administration und Support. Das spart Zeit, schafft Qualität und senkt Fehlerquoten.

Klingt nach reibungsloser Einführung. Gab es Hürden?
Oh ja. Wir haben den AI Hub anfangs zu „sicher“ gebaut – mit einem kleineren Sprachmodell. Gegen das frei verfügbare Top-Modell auf dem Handy verliert man damit. Erst als wir das leistungsfähigste Modell EU-konform angebunden hatten, kam Akzeptanz auf. Der Lerneffekt war klar: Sicherheit ja, aber nicht auf Kosten der Nutzererfahrung.

Was bremst Unternehmen beim KI-Start am stärksten – Struktur oder Kultur?
Beides. Strukturell sind es die Daten. Viele merken erst im Projekt, wie fragmentiert, fehlerhaft oder unvollständig ihre Daten sind. Ohne saubere Grundlage funktioniert keine KI. Dann reden wir plötzlich über Data Warehouses, Vereinheitlichung und Governance – also über Basisarbeit.

Kulturell ist es das Thema Angst. Wenn Mitarbeitende nicht verstehen, warum KI kommt und was sie ihnen bringt, blockieren sie. Deshalb sind Kommunikation, Transparenz und Beteiligung so wichtig. KI ist kein IT-Projekt – sie ist ein Veränderungsprozess.

Wo sehen Sie die größten betriebswirtschaftlichen Effekte?
Ich sehe drei Hebel:

  • Produktivität & Qualität: KI übernimmt Routinetätigkeiten – schneller, fehlerfreier, konsistenter.
  • Fachkräftemangel: Sie hilft Teams, mehr zu schaffen, ohne mehr zu arbeiten.
  • Wissenssicherung: Bots speichern Prozesse, Sonderfälle und Erfahrungen. So bleibt Wissen im Unternehmen, auch wenn Menschen gehen.

In Summe ist KI kein Selbstzweck, sondern ein Wirtschaftsfaktor.

Wie holen Sie Unentschlossene ab, die „irgendwas mit KI“ machen wollen, aber nicht wissen, wie?
Mit einem strukturierten Einstieg: unserem KI-Strategie-Workshop. Wir starten mit Grundlagen und Praxisbeispielen, dann folgt ein moderiertes Use-Case-Brainstorming. Jeder Vorschlag wird bewertet – nach Umsetzbarkeit, Wertbeitrag und Kosten. Am Ende steht eine priorisierte Roadmap mit 3–5 konkreten Projekten.

Das schafft Klarheit, nimmt die Unsicherheit und ermöglicht echte Entscheidungen. Und wer mag, kann sich über unseren Newsletter „Das Blaue vom AI“ wöchentlich weiter inspirieren lassen – natürlich KI-gestützt erstellt.

Welche Rolle spielen Hochschulen, Verbände, Netzwerke?
Eine zentrale. Sie sind Multiplikatoren. Wir brauchen diese Plattformen, um Bewusstsein zu schaffen und Wissen zu teilen. Erst wenn Unternehmen die Möglichkeiten verstehen, entstehen Ideen – und aus Ideen werden Projekte.

Darum sind wir viel unterwegs: mit Vorträgen, Workshops, Diskussionsformaten. Gleichzeitig halten wir engen Kontakt zu Hochschulen, um Forschung früh in die Praxis zu bringen und Förderprogramme gezielt zu nutzen. Innovation entsteht im Austausch.

Talente sind knapp. Wie entwickelt und hält man KI-Kompetenz?
Realistisch starten viele mit externer Expertise – das ist völlig in Ordnung. Wichtig ist, parallel ein kleines internes KI-Kompetenzzentrum aufzubauen: zwei bis drei Leute, die Wissen bündeln und multiplizieren.

Und um Talente zu halten, braucht es Kultur: Vertrauen, Eigenverantwortung, moderne Arbeitsweisen. Menschen, die KI verstehen, haben viele Optionen. Wer sie binden will, muss Raum geben – nicht Kontrolle.

Was sind die drei Trends, die den Mittelstand unmittelbar treffen werden?
Erstens Humanoide Robotik: Systeme, die günstiger werden und rund um die Uhr arbeiten – das verändert Logistik und Produktion massiv.
Zweitens Agentensysteme: ein Schwarm spezialisierter Bots, die ganze Prozesse abwickeln – vom E-Mail-Eingang über Bestellung und Produktion bis zur Rechnung. Noch mit menschlichen Freigaben, aber perspektivisch weitgehend autonom.
Den dritten Trend sehe ich in der Erstellung und Nutzung von Small Language Models – also kleine, auf die Anwendung spezialisierte Sprachmodelle. Das ist schnell, datenschonend und unabhängig von einem Rechenzentrum.

Die großen KI-Player sitzen in USA und China. Ist Europa bereits abgehängt?
In der Breite ist Europa sicher nicht führend, aber das muss es auch nicht sein. Die großen Foundation-Modelle entstehen in den USA oder China. Doch der eigentliche Wert entsteht in den Anwendungen. Europa hat hier eine enorme Stärke: Wir können auf bestehenden Modellen aufbauen und sichere, domänenspezifische Lösungen entwickeln – Made in Europe. Das ist unsere Chance.

Und die ewige Frage: Kommt AGI – die Super-KI?
Vielleicht irgendwann. Aber wichtiger ist, dass wir Sicherheit vor Schnelligkeit denken. Wir sehen erste Experimente mit selbstreferenziellen Systemen – umso wichtiger sind Governance, Audits und Cybersecurity.

Ich bin überzeugt: Wir können visionär denken und trotzdem verantwortungsvoll handeln. Beides gehört zusammen.

Man merkt, Sie brennen für das Thema. Warum?
Weil KI greifbaren Nutzen stiftet. Weniger Leerlauf, weniger Verschwendung, bessere Entscheidungen. Jede Woche gibt es Neues zu entdecken – und trotzdem ist das Ziel immer dasselbe: Mehr Wirkung mit weniger Aufwand.


KI ist gekommen, um zu bleiben. Wer heute beginnt, legt das Fundament für die nächsten zehn Jahre – technologisch und wirtschaftlich. Und ja, ein bisschen Science-Fiction-Staunen gehört dazu. Aber das Entscheidende bleibt: KI muss Nutzen bringen. Für Menschen. Für Unternehmen. Für die Gesellschaft.

Vielen Dank, Herr Braun, für die wertvollen Einblicke in die aktuellen Trends in der KI und Ihre Arbeit. 

Das Interview führte Katja Leimeister, approdos consulting. 

 


Kontakt

Volker Braun
Blue Tomato Technologies GmbH
volker.braun@bluetomato.tech
www.bluetomato.tech